Vernagtferner 2011
Der Vernagtferner
ein Gletscher im Klimawandel

Wie kalt war es am Vernagtferner im 19. Jahrhundert?

Betrachtet man die historischen Bilddokumente der gewaltigen Eismassen des Vernagtferners im 19. Jahrhundert, dann stellt sich intuitiv die Frage nach den damals herrschenden Witterungsbedingungen, welche eine derartige Akkumulation ermöglichten. Nicht ganz unbegründet drängen sich hier die Vorstellungen eiszeitlicher Verhältnisse in der Erdgeschichte auf, während denen die Lufttemperatur für Zehntausende von Jahren um 8°C bis 10°C unter dem heutigen Niveau lag. Eine aus unter den gegenwärtigen klimatischen Bedingungen ziemlich unangenehme Vorstellung. Eine einfache Antwort auf diese Frage gibt es allerdings nicht, denn es fehlen in dieser Zeit schlichtweg verlässliche instrumentelle Messungen vor Ort. Allerdings gibt es diese an anderen Orten, z.B. an diversen meteorologischen Observatorien rund um den Alpenraum, wie etwa das auf dem des Deutschen Wetterdienstes ( DWD ) auf dem Hohenpeissenberg, von dem eine vollständige Messreihe der Temperatur seit 1781 vorliegt. In den Alpen oder gar in Gipfelregionen sind die Messreihen dagegen meist kürzer, in der Regel decken sie nur das 20. Jahrhundert vollständig ab (z.B. Zugspitze, Säntis oder Sonnblick). Der Österreichische Wetterdienst ZAMG erstellte im Rahmen seines Projektes HistAlp ( H istorical I nstrumental Climatological S urface T ime Series Of The Greater Alp ine Region) vor ca. 10 Jahren eine flächendeckende Analyse der bodennahen Lufttemperatur auf der Basis der verfügbaren Messungen für beliebige Orte im gesamten Alpenraum ab 1760. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Rekonstruktion der Monatsmittelwerte für den 2640 m hoch gelegenen Standort der Klimastation Vernagtbach erstellt. Neben der Lufttemperatur wurden dabei auch die Schneemengen und die Sonnenscheindauer rekonstruiert. Diese Rekonstruktion kann als erste quantitative Grundlage zur Klärung der Frage nach den klimatischen Voraussetzungen in historischen Zeiten herangezogen werden. Beides, sowohl die Anomalie der Temperatur im Jahresmittel als auch die relativen Schneemengen sind in Relation zum Mittelwert 1961-1990 in der Abbildung „Der Vernagtferner im Klimawandel“ in Orange (Temperatur) und Hellgrau (Schnee) geglättet über 9 Jahre eingetragen. Die rekonstruierte Temperaturkurve passt sich sehr gut an die seit 1974 an der Klimastation Vernagtbach verfügbare Messreihe an, so dass beide Kurven zusammen als eine Einheit betrachtet werden können. Sehr gut ist dokumentiert ist damit der auffallende, mit gut 2°K vergleichsweise extreme Temperaturanstieg, der nach 1980 begann. Davor zeigt die Kurve signifikante Schwankungen um den Verlauf der Globalen Anomalie (rot) mit einer ca. 35 jährigen Periodizität zwischen den Maxima und Minima. Auf die Natur dieser Schwankungen kann an dieser Stelle (noch) nicht näher eingegangen werden, es sei lediglich erwähnt, dass die Minima mit Ausnahme des Zeitraums zwischen 1900 und 1920 mit extrem kalten Wintern um die Jahre 1890, 1943 (Kriegswinter), 1962 und 1983 korrespondieren. Zwischen 1900 und 1920 waren stattdessen ähnlich wie in den 1960er und 1970er Jahren die Sommer signifikant kühler. In Mitteleuropa gab es zwar durchaus regionale Unterschiede der Temperaturanomalie, die grobe Entwicklung mit der Zeit ist aber überall ähnlich. Dies zeigt relativ eindrücklich der Vergleich der Flächenmittelwerte der Anomalie für größere Einheiten, z. B. von Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland (Abbildung 2). Generell sind die Anomalien im Küstenbereich etwas kleiner und nehmen dann zum inneren des Kontinents zu. Die HistAlp-Rekonstruktion folgt im Wesentlichen den vorgegebenen großräumigen Änderungen, wobei die kälteren Perioden im Bereich der Pegelstation allgemein etwas strenger ausfielen. Die Kurve orientiert sich relativ nahe an der Messungen an der Wetterwarte der Zugspitze, was durchaus gerechtfertigt sein mag. Die Varianzspektren beider Messreihen sind im niederfrequenten Bereich praktisch deckungsgleich, so dass sich beide Kurven seit 1980 mit hoher Genauigkeit (besser als 5% Abweichung) mit statistischen Methoden voneinander ableiten lassen. In die Vergangenheit dürfte die Unsicherheit jedoch zunehmen, da damals die lokalen Bedingungen einen größeren Einfluss hatten. Diesen erkennt man z.B. auch daran, dass die Erwärmung an der Klimastation Vernagtbach in den letzten Dekaden signifikant stärker ausfiel als an der Zugspitze.
Abb. 2: Vergleich der Flächenanomalien der Lufttemperatur in der BRD mit denen aus den  Messungen an der Zugspitze, an der Klimastation Vernagtbach und deren Rekonstruktion durch den Österreichischen Wetterdienst ZAMG
Abb. 2: Vergleich der Flächenanomalien der Lufttemperatur in der BRD mit denen aus den Messungen an der Zugspitze, an der Klimastation Vernagtbach und deren Rekonstruktion durch den Österreichischen Wetterdienst ZAMG
Abb. 3: Linearer Zusammenhang zwischen der lokalen Temperaturanomalie nach der Rekonstruktion des Österreichischen Wetterdienstes ZAMG und der Masse des Vernagtferners
Abb. 3: Linearer Zusammenhang zwischen der lokalen Temperaturanomalie nach der Rekonstruktion des Österreichischen Wetterdienstes ZAMG und der Masse des Vernagtferners
Die Rekonstruktion der lokalen Temperatur des ZAMG zeigt ebenfalls eine lineare Beziehung der Masse des Vernagtferners, die Korrelation ist jedoch weniger eng als zu der globalen Temperaturanomalie. Sie passt insbesondere nicht zu den Beobachtungen der Gletscherveränderungen zum Ende der „Kleinen Eiszeit“ um 1850. Der letzte Zeitraum, in dem es nachgewiesenermaßen zu einem Massenzunahme des Vernagtferners kam, war zwischen 1960 und 1980. Nach der Rekonstruktion des ZAMG in HistAlp lag damals das Jahresmittel der Temperatur etwas über 2°C tiefer als heute. Mit Ausnahme einer signifikant wärmeren Periode zwischen 1945 und 1955 lag davor die mittlere Temperatur in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert hinein auf einem ähnlichen Niveau wie während der kühleren Phase vor 1980. In den Alpen dagegen war die Periode zwischen 1900 und 1920 gut 0.5°C kühler, der kälteste Abschnitt der Rekonstruktion im 19. Jahrhundert war der um das Jahr 1890. Es war demnach am Vernagtferner im Jahresmittel lediglich um 3°C kälter war als heute. Was ein zwei bis 3 Grad kälteres Klima bedeuten könnte, konnte man zuletzt im Frühjahr 2021 ungefähr nachempfinden. Auch der darauffolgende Sommer zeigte zeitweise kühlere und nassere Phasen, die als unangenehm empfunden wurden. Dies lag aber vor allem daran, dass man sich in den vergangenen Jahren bereits an das wärmere Klima gewöhnt hatte, so dass bereits ein Temperaturniveau im Bereich des langjährigen Mittels als zu kühl empfunden wird. Aber auch in den 1970er und 1980er Jahren gab es Situationen, in denen man bei sonnigem Wetter ohne warme Jacke bequem über den Gletscher laufen konnte. Auf den Bildern aus dem 19. Jahrhundert dagegen trugen die Leute auch im Sommer dicke Winterkleidung gegen die Kälte. Schneefälle waren auch eher Sommer die Regel, während Niederschläge heute bis in hohe Lagen überwiegend als Regen fallen. Der Massenzuwachs des Gletschers zwischen 1960 und 1980 betrug innerhalb der 20 Jahre nicht einmal 20 Millionen Tonnen. Um wieder die Masse vor dem Vorstoß um 1900 zu erreichen, hätten die damals herrschenden klimatischen Bedingungen noch etwa weitere 150 Jahre andauern müssen, was unter den Bedingungen des Klimawandels sehr unwahrscheinlich wäre. Ein wesentliches Problem dabei ist, dass der Gletscher potentiell nur im Bereich seiner aktuellen Fläche an Masse zunehmen kann. Genauer beschränkt sich diese Akkumulationsfläche auf den Bereich, in dem die Lufttemperatur ganzjährig unter 0°C liegt. Nur dort fällt der Niederschlag als Ganzes in Form von Schnee und schmilzt auch nicht wieder vollständig ab. Dieser hängt auch von der Höhenlage der klimatischen Frostgrenze ab. Momentan liegt diese im Jahresmittel etwa auf der Höhe der Pegelstation Vernagtbach, im Sommer gar oberhalb der Gipfel. In den letzten Jahren betrug die Fläche des Nährgebietes des Vernagtferners mit nennenswertem Massengewinn daher gerade noch etwas mehr als einen Quadratkilometer. Dieser ist im Gegensatz zu den Verlusten im 4fach so großen Zehrgebiet der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein. Um 1975 bei einer um 2.5°C niedrigeren Jahresmitteltemperatur lag die Frostgrenze um fast 400 m tiefer, deshalb umfasste das Nährgebiet gut 80% der Gletscherfläche und konnte dort 2.35 Millionen Tonnen an Masse gewinnen. Um jedoch im 19. Jahrhundert die benötigte Eismasse für die beobachteten Gletschervorstöße in der Größenordnung von 150 bis 300 Millionen Tonnen innerhalb von Zeiträumen von weniger als 20 Jahre anzusammeln, macht Massengewinne von mehr als dem 5 fachen erforderlich. Zwar betrug damals die Gletscherfläche beinahe das Doppelte als 1975, sie reichte folglich auch gut 500 Höhenmeter tiefer in das Vernagttal. Um nennenswerte Bereiche davon dem Nährgebiet zuzuordnen, muss die Frostgrenze entsprechend tiefer liegen, was einem 3° bis 4°C kälteren Klima als in den 1970ern entsprechen würde. Das ist der HistAlp-Rekonstruktion nicht zu entnehmen. Diese gilt zwar für den Ort der Klimastation Vernagtbach in der heutigen Form, berücksichtigt aber nicht, dass dieser in der Vergangenheit meist bis zu über 100 m dick mit Eis bedeckt war und deshalb deutlich höher lag. Bis um 1930 befand sich die Stelle auf der Gletscheroberfläche, wo es vor allem im Sommer deutlich kälter war. Es fehlte somit auch die Zufuhr warmer Luft von den umliegenden schneefreien Geröllfeldern. Zeitweise war die Höhenlage bis zu 110 m über der heutigen und dementsprechend kälter. Berücksichtigt man diese Umstände und rekonstruiert die tatsächliche Jahresmitteltemperatur in 2 m über Grund vor Ort auf Basis der homogenisierten Messreihe des Observatoriums Hohenpeissenberg, so ergibt sich der in Abbildung 4 wiedergegebene Verlauf über die letzten 220 Jahre. Dieser Zeitraum umfasst insgesamt vier ausgeprägte Vorstöße, die sich alle im Anschluss an eine 10 bis 20 Jahre dauernde kältere Periode am Beginn einer ausgeprägten Erwärmungsphase ereigneten. Das Ausmaß der Vorstöße wurde mit den steigenden Temperaturen immer geringer, in den letzten 40 Jahren verlor der Gletscher praktisch seine Zungen vollständig und teilt sich gegenwärtig in kleinere nicht mehr zusammenhängende Teilbereiche auf. Der Vergleich mit der 45 Jährigen Messreihe an der Pegelstation zeigt die Genauigkeit der Rekonstruktion, die für die geglättete Version besser als +/-0.5°K betragen dürfte. Die Abweichung zu der in Grün eingetragenen Kurve von HistAlp ist besonders im 19. Jahrhundert signifikant. Da die Jahresmitteltemperatur gegenwärtig bei 0°C liegt, sind die Werte praktisch identisch mit den Anomalien zur Gegenwart. Folglich war es um die Zeit des letzten Maximalstandes 1848 im Jahresmittel am Vernagtferner zwischen 5°C und 6°C kälter als heute. In Extremjahren wie „das Jahr ohne Sommer“ 1816 war es gar bis zu 7°C kälter. Das erinnert definitiv an eiszeitliche Verhältnisse. Diese „Kaltzeiten“ zeichnen sich gegenüber heute dadurch aus, dass sie über Jahrzehnte andauerten. Gegen Ende der „kleinen Eiszeit“ zwischen 1850 und 1860 kommt es zu einer ausgeprägten Erwärmung zurück zu einem Niveau 4°C kälter als heute, in dessen Folge die Gletscherzunge aus dem Vernagtgraben bis unterhalb der Hintergrasln zurückschmolz. Von 1877 bis 1897 an lies eine Serie mit kühleren Jahren die Masse im Akkumulationsgebiet wieder anwachsen, bis eine anschließende wärmere Phase erneut einen Vorstoß auslöste, der aber während einer erneuten kühleren Phase mit Jahresmitteltemperaturen um -5°C bis 1903 knapp unterhalb der Zunge des Guslarferners wieder zum Stillstand kam. Dabei hatte der Vernagtferner offensichtlich „sein Pulver verschossen“, so dass er in den kühlen Sommern zwischen 1900 und 1920 noch einmal Masse für einen Vorstoß aufbauen konnte, wie er an vielen Orten in den Alpen beobachtet wurde. Am Vernagtferner setzte stattdessen ein fast kontinuierlicher Erwärmungstrend ein, der bis heute unvermindert anhält.
Abb. 4: Rekonstruktion der 2m-Lufttemperatur an der Position der Klimastation Vernagtbach auf der Basis der homogenisierten Messreihe am Observatorium Hohenpeissenberg unter Berücksichtigung der Dicke des Eises und des Einflusses des Gletschers im Vergleich zur HistAlp-Rekonstruktion, welche den Einfluss des Gletschers nicht berücksichtigt.
Abb. 5: Rekonstruktion der 2m-Lufttemperatur im Sommer an der Position der Klimastation Vernagtbach analog zur nebenstehenden Abbildung 4.
Wie bereits erwähnt, sind für den Massenzuwachs besonders die Verhältnisse im Sommer von Bedeutung, und da insbesondere die Lage der Frostgrenze. Abbildung 5 zeigt daher die Temperatur- entwicklung an der Position der Klimastation Vernagtbach in den Sommermonaten Juni, Juli und August. Während gegenwärtig die Temperatur an der Klimastation Vernagtbach über 7°C beträgt, war sie dort vor 1845 nahe dem Gefrierpunkt. Damit konnte der Gletscher jährlich bis zu 12 Millionen Tonnen Eis gewinnen. Dies entspricht den weiter oben genannten Anforderungen. Ab 1860 lag die Frostgrenze im Sommer bei ca. 3000 m, wodurch die Akkumulationsbeträge deutlich reduziert wurden. Damit gehörte ein Vorstoß der Gletscherzunge bis in das Rofental wohl für längere Zeit der Vergangenheit an. Die guten Akkumulationsbedingungen in den 1960er und 1970er-Jahren verdankte der Vernagtferner hauptsächlich den damals kühleren Sommern. Was den Schneeniederschläge betrifft, so gilt zu bedenken, dass diese in kalten Wintern eher geringer sind als in wärmeren. Hier sind vor allem die Bedingungen im Frühjahr bedeutsam.
Abb. 6: Linearer Zusammenhang zwischen der lokalen Jahresmitteltemperatur gemäß der Rekonstruktion in Abbildung 4 und der Masse des Vernagtferners
Der lineare Zusammenhang zwischen der lokalen Temperatur und der Masse des Vernagtferners ist mit der Rekonstruktion mit Hilfe der Extrapolation der Messreihe des Observatoriums des Hohenpeissenberg mit Berücksichtigung des Gletschereinflusses vor allem für die Zeit unmittelbar nach 1850 etwas enger geworden. Im Bereich des Vernagtferners nahm demnach innerhalb von 220 Jahren die Jahresmitteltemperatur um 6 Grad zu. Ähnlich sind die Verhältnisse im Sommer. Eine Witterung mit einer im Mittel 5°C bis 6°C kälteren Durchschnittstemperatur ist aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar. Die ab 1860 einsetzende wärmere Phase dürfte aber der aufstrebenden Entwicklung des Alpinismus in der Region dienlich gewesen sein. Der Beziehung ist zudem zu entnehmen, dass die Schätzung der Eismasse des Vernagtferners zu seinem Höchststand 1848 mit 900 Mio Tonnen etwas zu hoch angenommen wird. Sie liegt demnach eher bei 750 Millionen Tonnen, was auch daran liegen könnte, dass die Dichte des Eises als zu hoch angenommen wird. Historische Abbildungen zeigen, dass die Oberfläche der vorstoßenden Gletscherzunge infolge der auf sie einwirkenden Kräfte extrem spaltig und zerrissen war. Dies spricht für einen hohen Luftgehalt des Eiskörpers. Zu diesen dynamischen Prozessen des Gletschers mehr im nachfolgenden Abschnitt.

Wie passt sich ein Gletscher an das Klima an?

Generell erfolgt die Anpassung eines Gletschers an die klimatischen Randbedingungen, indem sich seine Masse verändert und ein neues Gleichgewicht anstrebt. In der Folge verändert sich auch seine Form und Fläche. Eine Abnahme der Masse erfolgt in erster Linie durch die Schmelze an der Oberfläche. Diese findet überall dort statt, wo die Taupunkttemperatur über dem Gefrierpunkt liegt. Es muss folglich nicht nur die Lufttemperatur positive Werte annehmen, sondern auch die Luftfeuchte möglichst hoch sein. In den Wintermonaten (Dezember bis Februar) und im Frühjahr (März bis Mai) ist die Lufttemperatur bereits auf dem Höhenniveau an der Klimastation Vernagtbach im Mittel negativ, es kommt daher in den Bereichen oberhalb davon wegen der Temperaturabnahme mit der Höhe nicht zur Schmelze. In den Sommermonaten Juni bis August, teilweise noch im September treten auch in den höchsten Lagen des Gletschers Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt auf. Dabei schmilzt unterhalb der Höhe der sogenannten Gleichgewichtslinie (ELA= Equilibrium Line Altitude) zunächst der im Winter akkumulierte Schnee vollständig ab, anschließend auch die dort vorhandenen Eisreserve. Die Schmelzraten sind dabei in den tiefst gelegenen Bereichen der Gletscherzunge am größten, während die Mächtigkeit des Eises zur Zungenfront hin abnimmt. Überschreiten die Schmelzbeträge über den Sommer die dort noch vorhandene Eismächtigkeit, wird der Untergrund freigelegt und damit die Fläche des Gletschers vom unteren Rand her verkleinert. In der Folge verlagert sich die Gletscherfront zurück in höher gelegene Bereiche mit geringeren Schmelzraten. Mit der Verkleinerung der Fläche nehmen wiederum auch die absoluten Eisverluste ab, die in den tiefsten Lagen maximal waren. Verluste wie im Jahr 2003, als der Vernagtferner über 10% seiner Masse innerhalb eines einzigen Haushaltsjahres verloren hatte, sind zukünftig nicht mehr zu erwarten, da die tiefgelegenen Bereiche, in denen damals über 5 m Eis in einem Sommer abschmolz, heute nicht mehr existieren. Durch die Verkleinerung der Flächenanteile in den tiefsten Lagen versucht der Gletscher folglich die Verluste zu verkleinern und seine Masse unter den aktuellen klimatischen Randbedingungen zu erhalten. Während Massenverluste durch die kleiner werdende Fläche unmittelbar sichtbar werden, ist das bei Massengewinnen zunächst nicht der Fall. Diese resultieren unmittelbar aus den Einträgen von Schnee an der aktuellen Gletscheroberfläche. Im Gletschervorfeld liegen gebliebener Schnee kommt dagegen dem Gletscher nicht zugute. Nach einem mehrjährigen Prozess der Umwandlung von an der Oberfläche nicht geschmolzenem Schnee in Gletschereis nimmt örtlich die Mächtigkeit des Eiskörpers und somit auch die Gesamtmasse zwar zu, die Fläche des Gletschers bleibt dabei jedoch zunächst unverändert oder nimmt sogar weiter ab, sofern Teile der Gletscherfront durch die tiefe Lage weiterhin abschmelzen. Daraus ergibt sich die einfache Regel, dass kleine Gletscher unabhängig von der Witterung innerhalb eines Haushaltsjahres nur geringe Massengewinne verbuchen, große Gletscher dagegen unter günstigen klimatischen Bedingungen (warme Winter mit viel Schnee und feuchte kühle Sommer, eine tief gelegene Gleichgewichtslinie) innerhalb weniger Jahre gewaltig an Masse zunehmen können. Dies war eine der wesentlichen Voraussetzungen für die gegen Ende der Kleinen Eiszeit vor 1850 beobachteten Maximalstände der Gletscher. Dagegen müssten gegenwärtig solche gletschergünstige Bedingungen über mehrere Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte andauern, um die Ausdehnung der Gletscherflächen wie im 19. Jahrhundert wieder herzustellen. Dies verdeutlicht den herausragenden Unterschied der klimatischen Verhältnisse während der kleinen Eiszeit gegenüber den heutigen. Dennoch wurde in der Vergangenheit häufig von Gletschervorstößen in kühleren Zeiträumen berichtet. Damit war ein Vorrücken der Gletscherfront ins Tal mit einer deutlichen Verlängerung der Gletscherzunge gemeint. Ein derartiges Verhalten erfolgt nur auf Grund einer sehr ausgeprägten Eisbewegung oder besser Eisdynamik. Die historischen Bilddokumente belegen, dass der Vernagtferner sein Erscheinungsbild im Laufe der Zeit häufig gewechselt hat. Im Anschluss von Zeiten mit Massenzuwachs zeigte sich die Eisoberfläche wild und zerrissen, die Zungenfront steil aufgetürmt. In den deutlich längeren Perioden des Rückschmelzens dagegen wirkt der Gletscher meist glatt und harmlos mit einer flach auslaufemden Zunge. Dieses sich wandelnde Erscheinungsbild zeugt von der Dynamik der sich ständigen Anpassung der Eisbewegung des Gletschers. Jedoch entwickelt sich die Eisdynamik nach eigenen Gesetzen, die noch nicht vollständig verstanden sind. Generell werden an Gletschern zwei unterschiedliche Bewegungen beobachtet: Da ist zum einen ein Fließen des Eises innerhalb des Eiskörpers vom Akkumulationsgebiet zum Zehrgebiet analog zu dem einer hochviskosen Flüssigkeit wie beispielsweise Honig, zum anderen kann der Eiskörper als Ganzes den Untergrund entlang gleiten.
Eisdynamik
Abb. 7: Schematische Darstellung der Auswirkung der talwärts gerichteten Fließbewegung des Eises mit für den Vernagtferner typischen Werten gegen Ende des 20. Jahrhunderts
Wie bereits erwähnt, sind für den Massenzuwachs besonders die Verhältnisse im Sommer von Bedeutung, und da insbesondere die Lage der Frostgrenze. Abbildung 5 zeigt daher die Temperatur- entwicklung an der Position der Klimastation Vernagtbach in den Sommermonaten Juni, Juli und August. Während gegenwärtig die Temperatur an der Klimastation Vernagtbach über 7°C beträgt, war sie dort vor 1845 nahe dem Gefrierpunkt. Damit konnte der Gletscher jährlich bis zu 12 Millionen Tonnen Eis gewinnen. Dies entspricht den weiter oben genannten Anforderungen. Ab 1860 lag die Frostgrenze im Sommer bei ca. 3000 m, wodurch die Akkumulationsbeträge deutlich reduziert wurden. Damit gehörte ein Vorstoß der Gletscherzunge bis in das Rofental wohl für längere Zeit der Vergangenheit an. Die guten Akkumulationsbedingungen in den 1960er und 1970er-Jahren verdankte der Vernagtferner hauptsächlich den damals kühleren Sommern. Was den Schneeniederschläge betrifft, so gilt zu bedenken, dass diese in kalten Wintern eher geringer sind als in wärmeren. Hier sind vor allem die Bedingungen im Frühjahr bedeutsam.
Das Fließen des Eises führt zu einer Deformation des Eiskörpers (Abbildung 7). Das abfließende Eis im Bereich des Akkumulationsgebietes erzeugt dort ein Einsinken der Oberfläche des Eiskörpers. Diese Abwärtskomponente (Submergenz) wirkt der Hebung durch die Akkumulation an der Oberfläche entgegen. Im Zehrgebiet wird die Bewegung der aus dem Akkumulationsgebiet zufließenden Eismasse am Untergrund und durch das Aufschieben von Endmoränen gebremst. Aus Kontinuitätsgründen wird der Eiskörper im Bereich des Ablationsgebietes dicker, es kommt an der Oberfläche zu einer Hebung (Emergenz), die der Ablation entgegen wirkt. Ist die Hebung an der Zungenfront größer als der dortige Verlust durch die Eisschmelze, dann bewegt sich die Gletscherzunge scheinbar vorwärts, es kommt zum Vorstoß mit einer Vergrößerung der Gletscherfläche. Überwiegt jedoch die Ablation, schmilzt die Zunge zurück, aber wesentlich langsamer als ohne Eisbewegung. Dass die beschriebenen Prozesse auch am Vernagtferner relevant sind, zeigt die Abbildung 8. Hier wurden aus dem Vergleich der zwischen 1999 und 2006 nach der glaziologischen Methode bestimmten Höhenänderungen der Oberfläche in Abhängigkeit von der Höhenlage mit den tatsächlichen Höhenänderungen aus der Differenz von geodätisch bestimmten digitalen Höhenmodellen die jeweiligen Beträge der durch die Eisdynamik hervorgerufene Emergenz (Hebung) im Ablationsgebiet und die Submergenz (Einsinken) im Akkumulationsgebiet oberhalb der mittleren Gleichgewichtslinie knapp unterhalb von 3300 m ermittelt. Zur besseren Vergleichbarkeit werden alle Höhenänderungen der Schnee- und Eisdecke in die Einheit des Wasserwertes (WW) umgerechnet, welcher der Höhe der Wassersäule nach dessen Schmelze entspricht. Danach ergab sich an der Zungenfront eine Hebung von 1.9 m WW pro Jahr durch die herangeführte Eismasse, während dort gleichzeitig bis zu 4.7 m Eis durch Energieabsorption an der Oberfläche im Jahr abschmolzen. Damit betrug die tatsächliche Ablation dank dem mit der Eisbewegung herangeführten Eis an der Zungenfront im Mittel nur etwa 2.9 m WW pro Jahr. Als Ausgleich wurde der Gletscher im Akkumulationsgebiet durch das abfließende Eis um bis zu 60 cm pro Jahr dünner. Dadurch verliert der Gletscher nicht nur in den tieferen Bereichen an Masse, sondern auch dort, wo er eigentlich formal Gewinne verbuchen könnte. In der Gesamtbilanz verliert er wegen der Eisdynamik mehr Masse als ohne diese, da das Eis in tiefere Lagen verfrachtet wird, wo wegen der dort herrschenden höheren Temperaturen mehr davon schmelzen kann. Das Abfließen von Eis ist somit eine wesentliche Ursache dafür, dass auch in den Bereichen, die heute noch oberhalb der klimatischen Frostgrenze liegen und daher von der Schmelze weitgehend verschont bleiben, ebenfalls Massenverluste auftreten.
Auswirkung der Eisdynamik am Vernagtferner
Abb. 8: Mittlere Höhenänderung der Oberfläche des Vernagtferners zwischen 1999 und 2006 in Abhängigkeit von der Seehöhe. Angaben einheitlich in m WW (Wasserwert), positive Werte stehen für Bewegung nach oben, negative für Bewegung nach unten. In Blau die scheinbare Höhenänderung b auf Grund der aufsummierten örtlichen der Massenbilanz, in Grün die tatsächlichen geodätisch bestimmten Höhenänderungen h und in Rot die Emergenz (positive Werte) oder Submergenz (negative Werte) aus der Differenz e(z) = (b(z) –h(z)). ( Marowsky, 2010 ).
Die zuvor beschriebenen Prozesse verstärken zwar in Schmelzperioden die Ablation, sie genügen aber in der Regel nicht, um die Gletscherfläche nennenswert zu expandieren. Dazu muss sich der Eiskörper des Gletschers als Ganzes vergleichsweise schnell vorwärts bewegen, also quasi auf dem Untergrund ins Tal gleiten. Dabei vergrößert sich das Volumen des Gletschers ähnlich dem Blasebalg einer Ziehharmonika, nur werden statt Falten tiefe Gletscherspalten gebildet. Diese bilden sich in besonderem Maße über Heterogenitäten im Gletscherbett, wie beispielsweise an steilen Felsstufen (Abb. 7). Für den Vernagtferner verdeutlicht sich dieser Vorgang heute im direkten Vergleich von historischen Bildern mit modernen Aufnahmen vom selben Standort, in denen das Gletscherbett durch das Rückschmelzen der Gletscherzunge freigelegt ist. Die Oberfläche erscheint über den Geländestufen in besonderem Maße zerrissen. In der Regel setzt sich ein größerer Gletscher aus mehreren Eisströmen zusammen, die aus einer klar zuordenbaren Quellregion im Akkumulationsgebiet gespeist werden und sich entweder zu einer großen Gletscherzunge vereinigen oder aber auch mehrere Teilzungen ausbilden können. Die seitlichen Begrenzungen der Teilströme können anhand der dunklen Zonen der sich dort ausbildende Moränen identifiziert werden. Der Vernagtferner der 1980er-Jahre konnte von West nach Ost in vier große Eisströme aufgeteilt werden, die ihre Quellgebiete im Kar unterhalb der Schwarzwandspitze (SW), dem Sexenjoch (SJ), dem Taschachjoch (TJ) und dem Brochkogelkar (BK) haben (Abbildung 9). Jeder dieser Ströme hat individuelle Fließlinien und auch Fließgeschwindigkeiten und läuft nach dem Zurückschmelzen in klar zuordenbaren Zungenfronten aus. Im Verlauf des Rückschmelzens des Gletschers kommt es zunehmend zu einer Aufspaltung der einzelnen Eisströme, die dadurch zu eigenständigen Teilgletschern werden. Am Vernagtferner hat sich um 2005 der Schwarzwandstrom vom restlichen Gletscher abgetrennt, wodurch das Rückschmelzen der Schwarzwandzunge weiter beschleunigt wurde. Seit 2010 spaltet sich der Sexenjochstrom zunehmend vom östlich davon gelegenen Taschachjochstrom ab. Die ist nicht zuletzt eine Folge des Rückgangs des Eiszuflusses von dem hochgelegenen Hochvernagtplateaus. Von dort ist der westliche Strom bereits vollständig vom Sexenjochstrom getrennt, wodurch ein fünfter eigenständiger Gletscherteil entstanden ist. In ähnlicher Weise beginnt seit 2016 eine immer länger werdende Felsschwelle den Brochkogelstrom vom Taschachjochstrom abzuteilen. Diese Zerteilung
Eisströme am Vernagtferner
Abb. 9: Die vier großen Eisströme des Vernagtferners Mitte der 1980er-Jahre, benannt nach ihren Hauptquellregionen Schwarzwand, Sexenjoch, Taschachjoch und Brochkogel gemäß Moser et al., 1986. Als Abgrenzung dienen Deckmoränen (Foto: Markus Weber, am 12.9.1985).
des Gletschers führt letztlich dazu, dass in der Rückschmelzphase die Zahl der eigenständigen Gletscher zunächst zunimmt und nicht ab. Gegenwärtig hat sich der Vernagtferner in drei eigenständige Gletscher aufgeteilt, die zusammen nur noch einen Bruchteil der ursprünglichen Fläche einnehmen. Bald könnten es deren vier sein. Eine wichtige Voraussetzung für das basale Gleiten ist das Vorhandensein von genügend Schmelzwasser an der Unterseite des Gletschers, um einen ausreichenden Druck zum Anheben der Eismasse aufzubauen. Weiterhin spielen die Dicke des Eiskörpers und die Neigung und Beschaffenheit des Gletscherbettes eine wichtige Rolle. Oft müssen unter Umständen dort auf dem Fließweg regelrechte Hindernisse überwunden werden. Unter günstigen Bedingungen kann die Eisbewegung mittels basalem Gleiten von wenigen mm pro Tag auf mehr als einen Meter pro Tag beschleunigt werden. Damit ist in jedem Fall ein sichtbarer Gletschervorstoß verbunden. Durch die gewaltigen Kräfte an der Unterseite des Gletschers wird der Untergrund stark deformiert und Sedimente abgelagert bzw. mit der Bewegung verfrachtet. Dabei werden an der Seite gewaltige Moränen aufgeschichtet, die nach dem Rückschmelzen als Zeugen der ursprünglichen Ausdehnung der Eismasse übrigbleiben. Auch im Bereich der Gletscherfront werden durch den Vorstoß unauffälligere Moränen aufgeschoben, die nach dem Stillstand des Vorstoßes die Grenze der maximalen Ausdehnung markieren. Dadurch können frühere Hochstände überdeckt werden, so dass man nur noch die Vorstöße erkennen kann, die innerhalb des letzten Maximalstands liegen. Massengewinne zusammen mit der Bewegung des Eises, insbesondere der Gleitbewegung über den Untergrund sind also notwendige Voraussetzungen, damit ein Gletscher wachsen kann. In Zeiträumen, in denen günstige klimatische Bedingungen für Massengewinne herrschen, ist es jedoch in der Regel so kalt, dass das Eis über große Bereiche der Gletscherfläche am Felsgrund festgefroren ist und damit jegliche Gleitbewegung praktisch unterbunden ist. Die Auswirkung zeigt sich beispielsweise am sogenannten Bergschrund oder Randkluft, einer tiefen Spalte im Bereich des oberen Gletscherrands, die das in der kalten Höhe am Fels festgefrorene Eis von dem abgleitenden Eiskörper trennt. Außerdem ist kaltes Eis erheblich viskoser. In der Folge ist ein Gletschervorstoß in klimatisch kalten Phasen stark gehemmt, meist sogar unterbunden. Der Gletscher nimmt in dieser Zeit lediglich an Dicke zu. Erst bei wieder wärmeren Klimabedingungen, wenn auch genügend Schmelzwasser entsteht und das Eis bei höheren Temperaturen bessere Fließeigenschaften besitzt, kommt die Eisbewegung in Gang und der Vorstoß als Reaktion auf den vorangegangenen Massenzuwachs wird sichtbar. Im Gegensatz zum Gletscherrückgang, der weitestgehend synchron mit der Klimaerwärmung abläuft, erfolgt der Gletschervorstoß deshalb häufig mehr oder weniger verzögert auf eine Wachstumsperiode. Diese Beobachtung führt dann gelegentlich zu der verzerrten Wahrnehmung, dass Gletscher gegen den Erwärmungstrend wachsen würden. Dabei wird durch diesen die für den Vorstoß notwendige ausgeprägte Eisdynamik erst angefacht. Selbst in der kleinen Eiszeit dauerte die Kaltphase nicht ununterbrochen über Jahrzehnte, sondern wurde immer durch wärmere Jahre unterbrochen, in denen die Gletscher wieder vorstießen. Auf die letzte Periode mit positiven Massenhaushalten in den 1960er- und 1970er-Jahren begannen die Alpengletscher beispielsweise während der ersten Hälfte der 1980er-Jahre im gesamten Alpenraum vorzustoßen, als der Erwärmungstrend erneut einsetzte. Auch am Vernagtferner setzen sich damals alle vier Eisströme in unterschiedlicher Weise relativ spektakulär talwärts in Bewegung. Der Schwarzwandstrom schob seine Front in die Talmitte, der Sexenjochstrom schob sich gar über die Schwarzwandzunge und bildete dort das als „Vernagtzehe“ bezeichnete Eisgebilde. Der Taschachjochstrom dagegen überfuhr zur Hälfte die in den 1960er und 1970er-Jahren freigelegte östliche Felsschwelle und bildete dort eine markante bis zu 30 m hohe Eiswand, aus der sich Seracs lösten und über die Felsen stürzten. Der Brochkogelstrom dagegen verlängerte nur geringfügig die unterhalb des Schwarzkögele liegende gleichnamige Gletscherzunge. Bereits nach wenigen Jahren überwog jedoch wieder die Ablation an allen Zungen, so dass sie wieder zurückschmolzen. Um die Jahrtausendwende waren sämtliche Spuren des Vorstoßes bis auf ein paar unauffällige flache Endmoränen wieder verschwunden. Dennoch brachte der Vorstoß eine kaum nennenswerte Vergrößerung der Gletscherfläche. Das war allerdings auch nach dem wesentlich markanteren Vorstoß um 1900 der Fall. Die Abbildung 10 zeigt die Veränderung der Gletscherfläche und der Masse seit 1845, wobei detaillierte Messungen erst seit 1889 verfügbar sind. Die Flächenveränderungen zu Beginn des 20. Jahrhundert sind der detaillierten Analyse der verfügbaren Fotographien von Blümcke und Hess durch Lindmayer (2015) entnommen. Der Graphik kann entnommen werden, dass sich die Gletscherfläche während der Wachstumsphase in den 1960er und 1970er-Jahren praktisch nicht verändert hat. Das wird in der Realität auch in dem Jahrzehnt vor 1897 so gewesen sein.
Dennoch waren die Umverteilungen an Eismasse im 20. Jahrhundert im Verhältnis zu den Verlusten relativ unbedeutend. Das resultiert auch aus der Tatsache, dass die in der Gletscherzunge gebundene Masse nur einen Bruchteil der Gesamtmasse des Gletschers ausmacht. Selbst nach dem Vorstoß zwischen 1897 und 1901 machte die in der Gletscherzunge gebundene Masse nur etwa 7% der Gesamtmasse des Gletschers von ca. 600 Mio Tonnen aus, während des Vorstoßes wurden gerade einmal 15 Mio Tonnen oder 2.5% der Gesamtmasse umverteilt. Das ist in etwa die Hälfte des gegenwärtigen jährlichen Netto-Massenverlustes. Zwischen 1980 und 1986 wurde nur etwa die Hälfte in die Zungen verfrachtet, gut die Hälfte davon in die damals in die damals mächtigere Schwarzwandzunge. Seit dem letzten Höchststand in der Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Vernagtferner unter den dort herrschenden Klimabedingungen keine nennenswerte Massengewinne zu verzeichnen und seine Fläche kontinuierlich verkleinert. Deshalb können auch die relativ gut korrelierten linearen Beziehungen zwischen Gletschermasse und dem
Massen- und Flächenänderung des Vernagtferners
Abb. 10: Die Veränderung der Fläche und der Masse des Vernagtferners seit dem letzten Höchststand 1845 auf der Basis der verfügbaren geodätischen Vermessungen. Gestrichelt eine Fortschreibung des Trends bis zum vollständigen Abschmelzen des Gletschers.
Der Vernagtferner, ein galoppierender Gletscher?
globalen und regionalen Klima abgeleitet werden. Mit derabnehmenden Fläche werden die Bedingungen für Gletscherwachstum zunehmend ungünstiger, denn es kann auch im Falle einer für die Schneeakkumulation günstigen Witterung absolut nur wenig Masse akkumuliert werden. Möglicherweise gibt es einen Schwellenwert sowohl des Gletschers als auch der Klimaparameter, ab denen sich der Gletscher nicht mehr regenerieren kann. Aber dazu und auch zu den gepunkteten Linien in der Abbildung 10 mehr in den nachfolgenden Abschnitten. Während der sogenannten „Kleinen Eiszeit“ (ca. 1300 1850) müssen die Bedingungen über mehrere hundert Jahre dagegen völlig anders gewesen sein. Der Vernagtferner konnte damals eine Eismasse akkumulieren, die gut das 8fache der heute noch verbliebenen umfasste. Dabei wurde er nicht nur durch das kühle und feuchte Klima unterstützt, sondern auch durch seine schiere Größe. Das war natürlich kein Alleinstellungsmal des Vernagtferners, sondern konnte gleichzeitig an allen Alpengletscher beobachtet werden, so dass die Region des Ötztals in dieser Zeit eine bemerkenswerte Gletscherbedeckung aufwies. Leider sind jedoch die bekannten Fakten zu den Prozessen, die dazu führten relativ dürftig. Vertrauenswürdige instrumentelle Beobachtungen liegen erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor, Messungen am Gletscher selbst gar erst seit 1889. Fakt ist jedoch, dass der Vernagtferner im Verlauf des kühler werdenden Klimas in den ersten 300 Jahren der Kleinen Eiszeit eine Größe erreichen konnte, auf Grund derer die Eisströme des Vernagt- und des Guslarferners gegen Ende des 17. Jahrhunderts sich vereinigen und zusammen bis in das Rofental vorstoßen konnten. Dies geschah innerhalb weniger Jahre, so dass man den Vorgang als galoppierend (engl. Surge) bezeichnen konnte. Dazu jedoch mehr im nachfolgenden Abschnitt. Aus dieser Tatsache folgt aber, dass die Bedingung im der ersten Hälfte der kleinen Eiszeit über einen langen Zeitraum „gletscherfreundlich“ gewesen sein müssen, eine längere Periode mit feuchten und kühlen Sommern wurde zumindest kurzzeitig immer wieder durch wärmere Jahre unterbrochen, während denen der Gletscher seine Masse umverteilen und an Fläche zunehmen konnte. Wir wissen nicht wirklich, wie die Ausgangslage am Ende des mittelalterlichen Wärmeoptimums war, denn niemand hatte damals die Größe der Gletscher vermessen. Es gibt durchaus nicht generell zu widerlegende Thesen von Wissenschaftlern der Paläoklimatologie, welche auf der Grundlage von Klimazeugen (Proxydaten) von einer damals gegenüber der gegenwärtigen sogar kleineren Gletscherfläche ausgehen. Dies wäre allerdings kein wirklicher Widerspruch gegen die These des anthropogen verursachten Klimawandels, der seine volle Wirkung erst in der Gegenwart zu entfalten beginnt, wenn auch der Fund der in der unmittelbaren Nachbarschaft des Vernagtferners bereits vor 30 Jahren freigelegte Eismumie „Ötzi“ zumindest innerhalb der letzten 5000 Jahre dagegen spricht. Es deutet sich jedoch an, dass der Rückgang des Vernagtferners synchron einem bereits schwach positiven Klimasignal folgt, ein Gletschervorstoß dagegen erst in Schüben als Reaktion auf eine längere Periode mit einem merklich kühleren Klima reagiert. In der Messtechnik würde man schließen, dass das „Thermometer Gletscher“ eine Hysterese aufweist.